Ich muss zugeben, vor dem Gespräch mit Viktoria Polchenko, Creative Producerin beim ukrainischen Radio Promin, hatte ich den größten Bammel. Nicht nur, weil das Interview mit Hilfe einer Dolmetscherin stattfinden sollte, sondern auch, weil der schreckliche Angriff Russlands auf die Ukraine natürlich eine Rolle spielen würde. Da sind Probleme und Anliegen wie “Warum gibt es in Deutschland eigentlich kein gutes öffentlich-rechtliches Musikradio?” auf einmal relativ nichtig.
Aber wie so oft war die ganze Aufregung überflüssig. Eine Stunde habe ich mit Viktoria Polchenka gesprochen und sie als begeisterte Radiomacherin erlebt, die trotz der furchtbaren Umstände, in denen sie und ihr Team arbeiten und leben müssen, richtig gutes öffentlich-rechtliches Radio produziert.
Radio Promin (ukrainisch: Радіо Промінь, grob übersetzt: Radio Strahl) startete im Jahr 1965 als Jugendradio. Es ist eins von drei nationalen Radios des UA:Suspilne mowlennja (ukrainisch: UA:Суспільне мовлення) – dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Ukraine – und kann in weiten Teilen des Landes via UKW und online gehört werden.
Wie auch bei FM4 in Österreich ist aus dem einstigen Jugendradio mittlerweile aber eher ein Radio für alle musik- und kulturinteressierten Ukrainer*innen geworden. Die Hörer*innen altern mit:
“Our core audience is now 40+ years old. They are listening with old school FM radios. But we are reaching the younger people through our online streams, podcasts and soundclouds as well. Our listeners have always been from the active part of society. They are pro Ukraine, have higher education and they are interested in pop music from around the world and from Ukraine.”
Wie viele Menschen derzeit Radio Promin hören, lässt sich aufgrund des Krieges nicht sagen. Die Reichweitenmessung wurde eingestellt. Aber auch vor dem Krieg spielten die Hörer*innenzahlen, laut Polchenka, keine große Rolle. Man macht Radio für die, die es eben hören wollen und vertraut auf die eigenen Inhalte.
“We can surprise people. This creates a higher value for the station.”
Radio Promin ist kein reines Musikradio, auch wenn Musik ein wichtiger Bestandteil des Programms ist und sehr viel davon über den Sender läuft. 2011 legte der Sender außerdem eine Quote für die Musik fest: 90% der Playlist soll ukrainisch-sprachig sein.
“Moscow’s influence in Ukraine in the field of culture and music did not decrease after the Soviet Union broke up. Therefore, almost all airtime was devoted to foreign and Russian music. This led to the fact that in 2010 a generation of Ukrainians grew up not knowing Ukrainian musicians at all. At that time the National Council for TV and Radio was thinking about how Ukrainian music could be promoted through radio and television. So in 2011 we at Radio Promin decided to publicly declare that we would support Ukrainian musicians and that 90% of our playlist will consist of music which is produced in Ukraine. This was the radio station’s decision. And five years later, on November 8, 2016, the Law on Quotas for Ukrainian Songs and Speech on Radio came into force. They were introduced gradually. As a result, the share of Ukrainian songs on the radio during the day, including prime time, must be at least 35%”
Auch in Deutschland diskutiert man so eine Quote gefühlt alle zwei Jahre. Zuletzt zum Beispiel HIER. Meist geht es dann um 50%. 90%, wie bei Radio Promin, sind krass. Man kann das durchaus kritisch sehen und auch ich bin mir nicht sicher, ob eine Quote tatsächlich besseres Radio macht. Im Falle von Radio Promin hat die Quote historisch bedingte Gründe. Aber sie scheint auch zu funktionieren. Der Sender spielt ein wahnsinnig großes Spektrum an ukrainischer Musik – alt und neu, groß und klein und sämtliche Genres. Die Quote ist hier vor allem eine Chance für junge Künstler*innen ihre Songs ins Radio zu bekommen.
“At the beginning people were saying ‘this will never work, you’re crazy, you will run out of Ukrainian songs’. But we really wanted to give young Ukrainian artists an opportunity to show their work and to create new music for the people. And it does work. You know when a mother is breastfeeding her child, the more she feeds the child, the more milk will come.”
Auch wenn ich mir über die biologische Richtigkeit dieser Aussage nicht ganz sicher bin, weiß ich doch, was Polchenko meint. Je mehr Raum der Sender ukrainischer Musik gibt, desto mehr Musiker*innen fühlen sich ermutigt, in ihrer Muttersprache zu singen.
“This is what’s happening here. We are mainly playing music from Ukraine. And on top of that every week we put 5 new songs by Ukrainian artists on the playlist. We have a really special connection to these artists, we research them, listen to them and want to know all about them.”
Zusätzlich zur Quote gibt es die Sendung “Селекція” (= “Selection”), in der neue Musik von bekannten ukrainischen Künstler*innen vorgestellt wird und die Sendung “Вікенд нової української музики” (= “Wochenende der neuen ukrainischen Musik”), in der es ausschließlich um brandneue Acts geht, die auch live im Studio sind. Die Förderung einhimischer Musik als öffentlich-rechtlicher Programmauftrag!
“After the Soviet Union broke up a lot of commercial radio stations started in Ukraine. And they have very ordinary playlists because they need to attract lots of listeners. We as a public broadcaster don’t need to do this. We don’t have to do stuff just so we can attract as many people as possible. We can surprise people. I want people in Ukraine to switch on Radio Promin and say: ‘Wow, I didn’t know we had these amazing artists in our country.’ This creates a higher value for the station. Also I want these artists to sell out all their concerts and to earn enough money to easily make their art.”
Geld – auch so ein Thema, über das man öfter sprechen sollte. Je mehr heimische Künstler*innen im Radio laufen, desto größer wird deren Reichweite. Und desto mehr Platten, Tickets und Merch verkaufen sie. Das hilft dann nicht nur den Künstler*innen selbst. Weil diese dann auch mehr Steuern zahlen, kommt das wiederum allen zu Gute. Eine Win-Win-Situation!
Die Musik-Kompetenz des Senders führte seit Ausbruch des Krieges außerdem zu mehreren internationalen Kooperationen, die in Zukunft weiter ausgebaut werden sollen. So wurden Playlisten mit ukrainischer Musik für Sender in anderen Ländern gebaut und der Eurovision Song Contest 2022 (den die ukrainische Band Kalush Orchestra gewann) live auf Radio Promin übertragen. Außerdem war Radio Promin 2022 zum ersten Mal Teil der “Europe’s Biggest Dance Show” – einer gemeinsamen Live-Sendung von elf europäischen Radiosendern (darunter auch 1LIVE und Fritz). Viktoria Polchenko und ihr Kollege DJ Leo Levsky sendeten dafür mit Hilfe von Notstromaggregaten aus Luftschutzbunkern in Kyiv und Lwiw.
“We wanted to stay connected with our listeners.”
Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angriff, sendeten alle öffentlich-rechtlichen Sender (sowie einzelne private) in der Ukraine für einige Monate das Programm von UR-1, dem größten Sender von UA:Suspilne mowlennja. Radio war das wichtigste Medium, um die Menschen über Evakuierungen, Luftangriffe oder Versorgungsstellen in ihren Gebieten zu informieren.
“Ich kann mit Stolz sagen, dass das Radio in all dieser Zeit nie still gewesen ist. Unsere Journalisten arbeiten unter denselben Bedingungen, unter denen heute alle Ukrainer leben und arbeiten. Teilweise sogar komplexer, weil unsere Gebäude direkte Ziele der Angriffe der Russen sind. Wir verfügen über einzigartige Erfahrungen: von der Einrichtung von Live-Sendestudios in Luftschutzbunkern bis hin zu Notfallumzügen von Sendezentren und Mitarbeitern in verschiedene Regionen des Landes.”, sagt Dmytro Khorkin, Vorstandsmitglied von UA:Suspilne mowlennja.
Wie hat sich diese Zeit für Viktoria Polchenko und ihre Kolleg*innen angefühlt?
“When people from abroad ask me what it feels like running a radio station during war, I always say it’s like driving an electric car on a very low battery and everytime you plug in the charger, you notice that the building where the charger is attached to is gone. When the war started, we knew music wasn’t the main priority. Also a lot of our journalists and presenters were hiding in bomb shelters. But after some time they started to get in touch with our listeners through social media and provided them with music and humor to support them. We wanted to stay connected with our listeners.”
“Music is like a lifeline that helps us be strong.”
Dieser Austausch zwischen Sender und Hörer*innen auf den Social-Media-Kanälen führte beispielsweise dazu, dass sich Menschen verabredeten, um gemeinsam kulturelle Denkmäler ihrer Städte mit Sandsäcken zu schützen.
Seit April 2022 sendet Radio Promin wieder das reguläre Programm – aus den eigenen Studios und, wenn die Lage es erfordert, aus Luftschutzkellern. Der Krieg läuft weiter. Der Slogan des Senders lautet mittlerweile „Твій на 100%“ (= “100% deins“) und das spiegelt sich auch in der Playlist wider: diese besteht nun zu 100% aus ukrainischer Musik. Ausnahmen sind nur internationale Musikveranstaltungen wie der Eurovision Song Contest.
Hört man den Sender heute, fällt auf, wie “normal” das Programm ist. Das funktioniert auch, wenn man die Sprache nicht versteht. Die Musik ist bunt, die Moderator*innen witzeln durch die Sendungen, es gibt Sport und Interviews. Nur während der Nachrichten wird der Ton ernster und der Name Volodymyr Zelensky fällt häufiger.
“We talk about the situation we are in. We are trying to provide information about everything that is happening. But we also understand that our listeners are going through different emotional stages – from fear, grief, anger to trauma. Many of them want to feel lighter again and have their moods lifted. Our radio programming, our music, provides a hand to all those people and lets them understand that they are supported and that the country needs them. Music is like a lifeline that helps us be strong.”
Man kann sich als Außenstehende*r nicht wirklich vorstellen, wie viel Kraft es brauchen muss, um ein unbeschwertes und positives Programm unter diesen Umständen auf die Beine zu stellen. Das ist wirklich beeindruckend.
“If someone had ever told me that I’ll be working like this, in such difficult circumstances, I would have said, no, it’s impossible. But right now, you know, my team and I, we are doing this work for the people of our country and we’re doing it really well. Also, I believe that all those musicians who have now joined the military forces of Ukraine to defend our country will be back from the war and will tell us about the victory.”
Anmerkung: Das Gespräch mit Viktoria Polchenko habe ich am 6. April 2023 via Zoom geführt.
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