FIP – Frankreich

“Martin, let me tell you something: FIP is crazy!”
Das sind die ersten Worte, die mir Ruddy Aboab, Chef des französischen Radiosenders FIP, in unserem Gespräch um die Ohren feuert. (Für die full experience lest ihr das Zitat jetzt nochmal mit einem charmanten französischen Akzent im Hinterkopf. Ah, oui!) 

Zu diesem Zeitpunkt ist mir noch nicht ganz klar, was er damit meint. Bis vor ein paar Wochen hatte ich ja noch absolut keinen Schimmer, was die französische Radiolandschaft überhaupt zu bieten hat. Das Hindernis – Sprache – war für mich immer so groß, dass französische Medien bisher absolut keine Rolle in meinem Alltag spielten. (Grüße gehen an der Stelle raus an meine ehemalige Französischlehrerin Frau Stricker, die mir jegliche Freude an der Sprache erfolgreich genommen hat.) Als mir bei der Recherche zu dieser Reihe FIP über den Weg lief, war mir allerdings relativ schnell klar, dass sich das nun ändern könnte. 

Von vorn: 
FIP gibt es seit 1971. Der Sender ist Teil von Radio France, dem öffentlich-rechtlichen Hörfunk in Frankreich. Grob gesagt war die Idee ein Radio zu schaffen, was sich ausschließlich mit Musik beschäftigt und seine Hörer*innen damit im Alltag begleiten soll. Anfangs nur in Paris zu empfangen (daher auch der Name FIP: France Inter Paris), ist der Sender mittlerweile in zehn französischen Städten via UKW und natürlich online zu hören. 

Logo: FIP
credit: Dorian Prost


Was ist nun aber so crazy an FIP? 

“FIP basically is a radio totally dedicated to music and to literally every kind of music. 99% of our radio is music. There’s hardly any talking between the music and we only have three shows: ‘Club Jazzafip’ which has been running for 40 years now everyday from 7pm to 8pm, ‘Transe Fip Express’ every Friday night with exciting mixes of dance music from all eras and styles and ‘Certains l’aiment Fip’ every Sunday at 8 about music in films.”

Ok, das klingt zwar nach sehr vielseitigem Musikradio, aber so richtig verrückt nun auch nicht. Musik ohne Unterbrechungen bekomme ich ja auch bei Spotify oder Apple Music. Ruddy Aboab unterbricht mich: 

“It’s more than this. The difference between us and Spotify or other radio stations is that all the music is programmed by human hand. From the beginning to the end. Between 7 in the morning and 11 at night there are no robots, no software involved. Basically I have eight music programmers [französisch: programmateurs] who are each programming two hours of music everyday. And they can do whatever they want. They can play whatever they want. We only have a few things they need to respect: Never twice the same track in a day. Never twice the same artist in a day. These two hours have to be the most eclectic they can be. From classical music to jazz, to electronic, to pop, to world music, to techno, to Japanese music etc … our music possibilities are endless. The programmers have to tell some kind of story with the music they use. The music has to be what I call ‘past, present, future’ so from every era. They can do: Rosalía meets Chet Baker meets November Ultra meets Koki Nakano meets Kendrick Lamar. Also transitions are very important. They have to think about the transitions between the songs. Transitions can be based on melody or rhythm or they can be a kind of joke or reference or wordplay. For example, ‚Love Cats’ by The Cure can be followed by the theme song from the Disney movie Aristocats.”

Kurz zusammengefasst: Wow! Ich kenne keinen öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland, der so arbeitet. Zwar gibt es überall Musikredaktionen, in denen echte Menschen Playlisten bestücken, diese haben aber nicht annähernd so viele musikalische Freiheiten, müssen auf den typischen “Sender-Sound” achten, dürfen Hörer*innen nicht abschrecken oder nur Songs spielen, die in Musikanalysen als radiotauglich empfunden wurden. Die Herangehensweise von FIP hat, ganz positiv gemeint, starke Campusradio-Vibes.

Es geht noch weiter: 

“All those tracks, when they go on air during daytime, are mixed live by technicians. Man, it’s crazy.”

Heißt: da wo sonst eine Playout-Software, also ein Computer, in eigentlich allen Radiosendern dieser Welt von einem in den anderen Song fadet, sitzt bei FIP ein*e Techniker*in und steuert auch den allerletzten Vorgang, bevor der Song bei den Hörer*innen ankommt, per Hand. Wie in einem DJ-Set. 

Die passenden Memes gibt es natürlich auch. (Die Übergänge bei FIP / Ich / Die Arbeit)

FIP funktioniert heute also noch genauso, wie zur Gründung 1971. Das ist schon ein bisschen irre oder zumindest anachronistisch. Aber ich muss zugeben: ich liebe alles daran! Dass man das in einem öffentlich-rechtlichen System so lang durchziehen kann, ist bemerkenswert. Und für Radio France gibt es offensichtlich keinen wirklichen Grund, etwas an dem Sender zu ändern. “Es kommt nicht in Frage, FIP anzufassen.”, sagte Mathieu Gallet 2015 in seiner Rolle als Geschäftsführer von Radio France. 

Das hat sicherlich damit zu tun, dass FIP in Hinblick auf die Kosten der kleinste Sender der Radio France-Gruppe ist. (Man würde nicht viel einsparen, wenn es diesen Sender so nicht mehr gäbe.) Zum anderen zeigt ein Blick auf die Hörer*innenzahlen aber eben auch, dass sich die Hingabe für ein diverses Musikprogramm auszahlt. FIP erreicht insgesamt um die 700.000 Hörer*innen pro Tag über UKW. Dazu kommen 4,1 Millionen Menschen, die jeden Monat den Livestream im Internet einschalten. Das ist eine riesige Fanbase für einen kleinen Nischensender, dessen Strahlkraft über die Grenzen Frankreichs hinausgeht. Anfang der 2000er startete ein FIP-Fan in Brighton, England, sogar einen Piratensender, über den man FIP in einigen Teilen der Stadt hören konnte. Zehn Jahre lang ging das gut. Und auch Twitter-Gründer Jack Dorsey ist Fan des Senders. 

„We are trying to propose a kind of filter and we will surprise you with music you didn’t know you might like.“

Wie alt die Hörer*innen des Senders sind, interessiert Ruddy Aboab dabei nicht allzu sehr. Er weiß, dass viele Hörer*innen schon von Anfang an dabei sind und immer wieder neue dazukommen. Man macht, so Aboab, Radio für alle, von 15 bis 90 Jahren und muss sich dabei nur den eigenen, oben beschriebenen Werten treu bleiben. Musikfans finden früher oder später zu diesem Sender. Außerdem organisiert FIP Konzerte, mit denen man junge Menschen ansprechen kann. 

“These people tune in for the surprise to hear every genre and every kind of music. I don’t think an algorithm will be able to offer that. There is no algorithm that could be more human than our human programmers. Algorithms propose you a playlist based on your taste. This keeps you in a bubble of your taste. Also each day there are 100.000 new tracks being uploaded to Spotify. No one has the time to filter all this music. We are trying to propose a kind of filter and we will surprise you with music you didn’t know you might like. This is our public service.” 

Dieses Verständnis des öffentlich-rechtlichen Radioauftrags fehlt mir in Deutschland. Es ist das gelebte Gegenteil der Durchhörbarkeit. 

Insgesamt laufen schwindelerregende 350 Songs pro Tag und 2.500 individuelle Songs pro Monat über den Sender. Ausgewählt von eben nur acht Programmateurs, deren Job für jeden Musik-Nerd ein Traum ist, oder?

“Kind of. When I first arrived at FIP, one of the things I told them was: ‘It’s crazy! You are DJs for 700.000 people and you don’t even see them. Your job is to make these DJ sets and make sure no one is leaving the room. That’s brilliant and crazy.’ They have to have the right emotions and inspiration every day. Sometimes when they arrive on a Monday morning after a huge party weekend the music might be a bit slower to reflect their mood. And then on Tuesday they arrive and have more energy again. You’ll hear this in the playlist. I have these eight people who are there every day. And when one of them is leaving for holidays, I need to replace them. So I have a pool of substitutes. A while ago I had this new guy as a substitute, who has been working in a really cool record shop in Paris for 10 years. The first five or six playlists he made, he was like: ‘Wow, I’m so good at this. It’s really cool. It’s easy.’ But after the 10th playlist, he came to me and said: ‘Man, it’s so difficult. I’m not in my comfort zone anymore. I’ve used all my secret tracks. How do I reinvent myself?’ There’s a lot of pressure on them.”

Zum Mythos des Senders gehörte es lange, dass niemand so richtig wusste, wer diese Programmateurs sind. Den Hörer*innen war nur klar, dass in irgendwelchen Büros des Maison de la Radio hinter Bergen von CDs und Schallplatten acht Musikgenies sitzen, die nichts anderes tun, als manisch verrückte Playlisten zu bauen. Mittlerweile lässt man da etwas Licht ins Dunkel. Luc Frelon ist seit 19 Jahren Programmateur bei FIP und spricht in diesem Videopodcast (mit deutschen Untertiteln einigermaßen verständlich) über seinen Job. 

Es gibt noch eine weitere Sache, die seit 1971 mehr oder weniger unverändert Teil des Programms ist: Weibliche Stimmen, die alle 10 oder 20 Minuten Ansagen zwischen den Songs machen. Früher hießen sie FIPettes, heute schlichtweg Sprecherinnen (französisich: Présentatrices). Ähnlich wie die Programmateurs können auch sie machen, was sie wollen. Hauptsache kurz, beruhigend und sinnlich.

“They have a free mic. They can tell you the name of the track you just heard or what’s coming next. If they want to speak Spanish and read a poem in Spanish, that’s brilliant, too. Or they tell you about concerts or festivals. Just no news or unrelated information.”

Der Sender macht all das, wovor die öffentlich-rechtliche Programmgestaltung in Deutschland immer warnt: zu nischig, nicht mainstreamig, kein erkennbarer Sender-Sound, keine Durchhörbarkeit, keine journalistische Einordnung (die ich hier ja ohnehin nicht verstehen würde, merci beaucoup, Frau Stricker). Und trotzdem macht FIP alles richtig. Nach zwei Tagen, in denen der Sender mich von morgens bis abends begleitet hat, schaue ich in mein Notizheft und sehe eine lange Liste an Titeln und Künstler*innen, über die ich unbedingt mehr wissen will. Gleichzeitig fühle ich mich an vielen Stellen des Programms herausgefordert. Sei es durch Genres, zu denen ich eigentlich keinen Zugang habe oder durch endlos erscheinende Jazz Instrumentals (zu denen ich auch irgendwie keinen Zugang habe). Dennoch unterhält mich der Sender. Und gleichzeitig habe ich das Gefühl, etwas gelernt zu haben. FIP ist wie ein Mixtape von Freunden, die genau wissen, was mir gefällt oder womit ich mal noch etwas mehr Zeit verbringen sollte. (Das schreit ja förmlich: „Bildungsauftrag“!) Nur kurz unterbrochen von Ansagen, bei denen ich mir vorstelle, was sie bedeuten könnten. 

Dass FIP ein öffentlich-rechtliches Radio ist, ergibt total Sinn. Und dennoch ist es verrückt. FIP ist verrückt. Ruddy Aboab hat Recht. 

Anmerkung: Das Gespräch mit Ruddy Aboab habe ich am 22. März 2023 via Teams geführt.

Wenn du diese Reihe gut findest, unterstütze uns doch gern bei unserer Arbeit als Musikjournalist*innen mit einer Einmalzahlung.

Teilen: