DR P6 Beat – Dänemark

Das letzte Mal war ich 2011 mit meiner damaligen Band in Dänemark. Wir haben einen Gig in Kopenhagen gespielt, der eigentlich ziemlich gut lief – bis am Ende des Abends jemand auf unseren Schlagzeugteppich pinkelte. (Alle Drummer*innen haben einen Teppich, auf dem die Drums stehen, damit sie während des Gigs nicht wegrutschen.) Bis heute ist nicht klar, wer das war. Wir haben diesen Vorfall auch nicht direkt bemerkt, sondern erst am nächsten Tag, als der Teppich schon wieder gut verpackt im Auto lag. Der vollgepinkelte Teppich, die Lüftung auf warm, vier Jungs in einem Auto – olfaktorisch eine explosive Mischung. 

Nach zwölf Jahren bin ich nun wieder in Dänemark. Aber nicht etwa um die*den Täter*in der Causa “Schlagzeugteppich” aufzuspüren. Das erscheint mir aussichtslos. Ich bin natürlich auf der Suche nach einem öffentlich-rechtlichen Musikradio.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk Dänemarks – DR (früher Danmarks Radio, heute nur noch DR) – betreibt insgesamt sieben nationale Radios, von denen sich vier zu sehr großen Teilen, oder gar ausschließlich, mit Musik beschäftigen. Nennen wir sie Musikradios. DR P6 Beat (oder kurz P6 Beat) ist eines davon. Der Sender existiert seit 2011 und kann via DAB und online gehört werden. Der Fokus liegt nicht auf Hip-Hop oder Techno, wie man bei dem Namen vermuten könnte, sondern auf Independent-Musik der letzten 40 Jahre und von heute – also alles von Indie, Folk, Rock, Songwriter bis zu alternativer Popmusik und verwandten Genres. Das Programm des Senders besteht sowohl aus Live-Sendungen, Autor*innen-Sendungen (in denen die Moderator*innen selbst die Musik aussuchen), als auch aus längeren, unmoderierten Musikstrecken. Wichtig ist nur: Alles dreht sich ausschließlich um Musik. 

Logo: DR P6 Beat

Ich treffe Christina Høier, die Chefredakteurin des Senders, für ein Gespräch und stelle ihr natürlich zuerst die Frage aller Fragen: Warum hören Menschen Musikradio, wenn sie neue (und alte Musik) doch auch auf den Streamern bekommen?


“That’s a great question. We think and talk about that a lot. I think it’s two things: First of all, Spotify, it knows you, but it can’t present you all the music that you might want to hear. And sometimes it gets a bit boring because it won’t challenge you with stuff you had no idea about. We, as a public radio station, can surprise you. We can present music to you that you really didn’t know about or even didn’t think you’d like. We are a station for very curious people who are really interested in music.”

Credit: Bjarne Bergius Hermansen

Es fühlt sich an wie eine Wiederholung, denn bisher haben das fast alle Interviewpartner*innen gesagt. Und sicherlich haben sie damit auch Recht. Der Algorithmus ist nur so gut, weil er weiß, was einem gefällt. Wenn man aber wirklich neue Musik oder neue Genres finden will, funktioniert er nicht. Dann braucht es die Kuration durch eine Redaktion oder einen Sender. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben die wunderbare Position, genau das umzusetzen. Man muss ja im Grunde nicht auf Werbeeinnahmen oder Einschaltquoten achten, sondern kann spannendes Programm anbieten und die Hörer*innen überraschen. 

“The second thing is of course our hosts and presenters. Because they are funny, passionate and they know loads about the music they play. They have a real connection with the listeners.”

Das ist so ähnlich wie mit dem Menschen im Plattenladen. Hat der einem erstmal zwei richtig gute Platten verkauft, geht man immer wieder hin und nimmt auch mal ungehört eine Empfehlung von ihm mit.

Aber auch die Streaming-Anbieter wissen, dass Personality wichtig ist. Bei Spotify zum Beispiel versucht man es gerade mit einer KI-Personality: „Spotify AI DJ“ ist eine künstliche Intelligenz, die individuell für den oder die jeweilige*n Nutzer*in Songs an- und abmoderiert. Das Feature gibt es bisher nur in Kanada und den USA. Und wenn ich ehrlich bin, hoffe ich, dass es auch da bleibt. Das Promovideo ist absolut deprimierend. Ich will das nicht! Ich bin bei Christina Høier und habe Bock auf echte Menschen an den Mikrofonen.

“We can try all sorts of program features.”

Im Vergleich zu den großen öffentlich-rechtlichen Radios in Dänemark (DR P1, P3 und P4), ist P6 Beat relativ klein. Mit seinem Programm erreicht der Sender um die 150.000 Hörer*innen pro Woche. Das ist nicht viel. P6 Beat ist ein Nischensender. 

“We don’t worry all the time about ratings as a public broadcaster. I mean if the numbers would drop, then of course we would need to change something. But not with our stable 150.000 listeners a week. Also we don’t have to concentrate on the youth. There are other DR stations taking care of the younger people.”

Das Programm des Senders richtet sich zwar an alle musikbegeisterten Hörer*innen, die Zielgruppe sind aber die 30- bis 50-Jährigen. Dass man sich keine Sorgen um die Kids, die am härtesten umkämpfte Zielgruppe, machen muss, ist natürlich ein riesiger Vorteil. Ähnlich wie Double J muss sich auch P6 Beat nicht permanent verjüngen. Und Hörer*innen, die mittlerweile zu alt für die Jugendsender sind, aber dennoch Bock auf ein vielfältiges Musikprogramm haben, finden im besten Fall sowieso zu P6 Beat.

So ein Platz in der öffentlich-rechtlichen Nische bringt aber noch weitere Vorteile mit sich. 

“We don’t have a big economy and there is not that much focus on what we do, even inside DR. That can be really frustrating when we do great content and not a lot of people hear it. But it’s also a luxury as well. We can try all sorts of program features. We try to experiment and be open to ideas. We just do it, and we can put young presenters in front of the mic, earlier than other stations do.” 

Dieser Punkt kam bisher noch gar nicht zur Sprache. Dass so ein Sender am Programmrand auch eine Art Ausbildungskanal für Nachwuchsmusikjournalist*innen und Moderator*innen sein kann, dass man da auch mal Fehler machen und sich ausprobieren kann, nicht immer alles 100% passen muss und man neue Ideen direkt on air testen kann, ist doch super gut. Das sichert die Qualität des gesamten öffentlich-rechtlichen Systems nachhaltig. An dieser Stelle erinnere ich mich an mein erstes Praktikum und meinen ersten Job bei einem öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland. Ich war jung und voll motiviert, musste aber schnell feststellen, dass das Tageshighlight vieler meiner älteren Kolleg*innen das Mittagessen in der Kantine war. Junge Menschen verzweifeln oft an der Piefigkeit öffentlich-rechtlicher Häuser. Das ist schade und im Grunde total unnötig. 

“We play a huge part in Denmark for new music.”

Jetzt aber nochmal zurück zum wichtigsten Punkt: die Musik. 

“No other station plays the kind of music we play. It’s not happening anywhere.”

Die DR-Homepage unterstreicht das sogar mit einer Zahl: 70% der auf P6 Beat gespielten Titel laufen auf keinem anderen Sender der DR-Gruppe.

“It is important for us, as a public broadcaster, to play this music, because it means something to a lot of people out there. The real music fans. We play lots of their favorite music from all decades and a lot of new and unknown music.”

Außerdem gibt es, ähnlich wie in der Ukraine, auch in Dänemark eine festgeschriebene Quote für dänische Musik im Radio. Diese liegt derzeit bei 40-45%. Darüber kann man sich streiten. Ich bin mir auch nicht sicher, ob eine Quote direkt besseres Radio macht. Das Team von P6 Beat sucht aber tatsächlich nach interessanten heimischen Künstler*innen und Bands. 

“We play a huge part in Denmark for new music, new bands and very small artists. We give them their break on the radio and we play them when no one else wants to touch them. Sometimes we pick up a Danish band that’s really young and maybe they don’t have a record deal yet, and we play them a lot, and then they then eventually end up on the rotation of bigger stations like P3 or P4. This feeds back to live gigs and the venues as well. When we play these smaller artists on the radio they’ll start getting an audience through us and it’s then easier for them to sell tickets.”

Auch mit Blick auf den Zustand der Live-Branche nach drei Corona-Jahren, sollte die Unterstützung der heimischen Szene eine absolute Selbstverständlichkeit für ein öffentlich-rechtliches Radio sein. 

P6 Beat macht also alles richtig. Und eigentlich könnte der Text jetzt hier aufhören. Wären da nicht Politiker*innen, die noch bis vor kurzem heftig am öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Dänemark gesägt haben. Was war da los?

2018 beschloss das liberal-konservative Regierungsbündnis aus den Parteien Venstre, Liberal Alliance und Det Konservative Folkeparti unter Premierminister Lars Løkke Rasmussen den Rundfunkbeitrag abzuschaffen und DR zukünftig aus Steuergeldern zu finanzieren. Gleichzeitig wurde eine Budgetkürzung um 20% angekündigt. Dies bedeutete, dass DR im Programm sparen musste. Unter anderem sollten darum P6 Beat und der Schwestersender P8 Jazz eingestellt werden. 

“When the announcement came that we had to close, it was like being at your own funeral.”

Der Aufschrei unter den Fans beider Sender sowie der dänischen Musikindustrie war aber groß genug, um Druck auf DR und die Politik auszuüben. Nach etwas hin und her durften beide Sender erst bis Ende 2019, dann bis Ende 2020 und dann bis Ende 2021 weitersenden. Mittlerweile ist die Finanzierung für beide Sender wieder gesichert. Dennoch waren das drei Jahre, in denen die Mitarbeiter*innen nicht wussten, ob sie im nächsten Jahr noch einen Job haben werden. 

P6 Beat Instagram-Kanal, 06.12.2020: “Noch ein Jahr”

“It was difficult. On one hand it was actually a huge boost of energy. It’s very strange. We had so many great ideas during this time and we were so close to the listeners and the music industry. We felt all the love and we really felt what we meant to people. But of course it was very, very frustrating and hard at times, too. But not a single person left the radio during the three years that we were closing all the time. No one left. Everyone went to work every single day and did their shows and I think the listeners noticed that, too. So yeah the listeners, our hardcore fans, and the industry played a big role in that with starting petitions and being vocal about it. They put pressure on DR.”

Auch eine kleine Community kann große Wellen machen, wenn sie an dem Sender hängt. Für P6 Beat und P8 Jazz hat das funktioniert.

So jetzt ist der Text aber zu Ende, oder? Na ja, fast. Als ich Christina Høier zum Schluss frage, wo sie P6 Beat in zehn Jahren sieht, überrascht sie mich dann doch nochmal:

“Oh my God. In 10 years, I don’t think radio as we know it will exist. There is so much happening so fast right now. I could imagine that brands like P6 beat will still exist. But there will only be like a couple of major radio stations and the rest will be on demand.”

Uff (*Record-Scratch-Geräusch im Kopf*). Was?

“It’s tricky. I mean, I’m 50 and I grew up with radio and I have children that are 14 and 11. And they never listen to the radio. And of course that can change when they get older. But at the moment young people listen to so much stuff on demand. Also in Denmark they grow up listening to international media in a whole different way than we did. They speak English like it’s their native language. And they have so many things to choose from. It’s a huge challenge for all the people working with the youth in radio. The public youth stations – I really hope they crack it and get the right solutions because they can save the whole business.”

Dieser letzte Satz ist absolut wichtig. In einer Zeit, in der die Kids (nicht nur in Dänemark, sondern auch hier bei uns) Zugang zu unendlich vielen Medien haben, müssen öffentlich-rechtliche Sender echt clever sein, um sie nicht zu verlieren. Wie das gelingt? Tja, gute Frage. Ich glaube nicht durch ein breites “in die Masse senden” und Durchhörbarkeit, sondern mit individuellem Programm, spannenden und unangepassten Inhalten, Special-Interest-Themen und Nischen. 

Anmerkung: Das Gespräch mit Christina Høier habe ich am 30. März 2023 via Zoom geführt.

Wenn du diese Reihe gut findest, unterstütze uns doch gern bei unserer Arbeit als Musikjournalist*innen mit einer Einmalzahlung.

Teilen: