BBC Radio 6 Music – UK

Das letzte Interview der Reihe “Wo ist hier der Krach?” führt mich nach Großbritannien – dem Mutterland des Pop. Habt ihr euch schon mal gefragt, warum seit Jahrzehnten so viele gute britische Acts nach Deutschland kommen? Und warum der Strom an Neuen einfach nicht aufzuhören scheint? Was ist das Geheimnis der Talentschmiede UK? Wo steht dieser treasure trove voller spannender, sich immer wieder neu erfindender Popmusik? Vielleicht finde ich hier eine Antwort.

Aber first things first. Die BBC ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Großbritannien. Mit spritzigen 100 Jahren ist sie der älteste und mit ca. 23.000 Angestellten der größte weltweit. Der Rundfunkbeitrag (oder: BBC License Fee) liegt mit umgerechnet etwa 15€ etwas unter dem, was wir in Deutschland zahlen. Als Beitragszahler*in bekommt man aber mindestens genauso viel raus: Zum BBC-Netzwerk gehören 8 nationale Fernseh- und 10 Radiosender. Dazu kommen über 50 lokale TV- und Radiostationen. 

Seit 2002 produziert die BBC mit BBC Radio 6 Music (kurz: 6 Music) öffentlich-rechtliches Musikradio, also ein Radio, was sich ausschließlich mit Musik beschäftigt. Damit machen sie genau das, wovon hier so viele Medienmenschen behaupten, es würde nicht funktionieren. Die Fakten: 6 Music ist ein rein digitaler Sender, also nur im Internet und via DAB empfangbar. Im Jahr 2022 erreichte 6 Music im Schnitt 2,8 Millionen Hörer*innen pro Woche und ist damit der meistgehörte digitale Sender in Großbritannien – und das obwohl es wirklich „nur“ um Musik geht.

Logo BBC Radio 6 Music

Ich bin etwas voreingenommen, was diesen Sender angeht. Ich habe drei Jahre in England gelebt, bin seit gut 15 Jahren Hörer und hatte von 2019 bis 2020 ein “German Music” Feature auf 6 Music. Ich kenne den Sender also ganz gut. Was mich aber interessiert, ist, wie er so erfolgreich geworden ist.



Einer, der das wissen muss, ist Jeff Smith. Smith ist Head Of Music, also Chef der Musikredaktionen, von BBC Radio 6 Music und BBC Radio 2.

Smith erklärt den Erfolg des Senders mit dem Wort Authentizität. Das lässt mich erstmal aufschrecken. Authentizität fällt meistens immer dann, wenn die Stille im Raum unerträglich wird und Medienheinis nicht mehr wissen, was sie sagen sollen. Aber in diesem Fall ist da schon was dran: 

Jeff Smith, BBC

Die BBC hat 6 Music mit der Idee gegründet, den Spirit von John Peels ehemaliger Radio 1 Show weiterleben zu lassen. Man wollte ein Musikradio, was sich 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche mit Musik beschäftigt, die sonst nirgendwo ein Zuhause findet. Bold Move! Anfangs war das alles sehr gitarrenlastig, doch wenn man heute durch das Programm hört, erstaunt es schon, wie sich die verschiedenen Genres die Hand reichen. Und das nicht nur am Abend oder in der Nacht.

Es ist völlig normal, dass Mary Anne Hobbs in ihrer Show jeden Dienstagmittag für eine halbe Stunde den „Techno Tuesday“ ausruft, oder Craig Charles kurz danach den „Trunk Of Punk“ öffnet. Bei dem Gedanken daran, wie irgendjemand bei Deutschlandfunk Kultur einen Techno Dienstag ausruft, pruste ich direkt meinen Tee auf den Bildschirm. 

Aufgebaut ist der Sender nach einem recht klassischen Schema. Montags bis freitags laufen tagsüber sieben Livesendungen, die immer von denselben Moderator*innen präsentiert und jeweils von eigenen Redaktionen produziert werden. Diese tragen meist nur den Namen der Moderator*innen („Lauren Laverne“ oder „Chris Hawkins“). Abends und an den Wochenenden laufen Spezialsendungen, die unter anderem von Musiker*innen wie Iggy Pop, The Blessed Madonna oder Guy Garvey präsentiert werden. Beim Hören wird schnell klar: Entertainment is key. Das ist etwas, was mir an deutschen Musiksendungen oft fehlt. Vieles ist zu journalistisch, weniges ist unterhaltsam, niemand hat Spaß und ganz im Ernst (ha!), ich will nicht wissen, warum die Platte in Studio XY aufgenommen wurde. Tell me the interesting things and let the music speak!

Kurze Meme-Pause, weil ihr schon echt viel lesen musstet.

„They really believe in what they play and they love what they play.“

Der Sender setzt auf Vielfalt und eine große Musikauswahl, die Smith als „beyond mainstream“ bezeichnet. Der Fokus liegt dabei nicht ausschließlich auf neuer Musik, sondern streckt sich über die letzten 60 Jahre Popkultur. Die Hot-Rotation umfasst 30 Titel, die von der Musikredaktion, den Moderator*innen und den Producer*innen der einzelnen Shows jede Woche neu bestückt wird. TikTok, Spotify, Instagram und Co. spielen bei der Auswahl der Songs, so Smith, keine Rolle. Man verzichtet aus einem einfachen Grund außerdem auf Marktforschungstools:

„We don’t do any research at both Radio 2 and 6 Music. That was initially an economic decision, because financially for the BBC to spend money on research like that, it’s quite a big ask of the license fee payer’s money.” Interessanter Gedanke, den ich in Deutschland so noch nicht gehört habe. Dass viele Sender in Deutschland auf Marktforschung schwören, obwohl das eigentlich Quatsch ist, steht zum Beispiel HIER. „There is also no need to test music. We have the expertise within our teams to decide what music fits. If our audience numbers went down, you’d start to really think that you maybe won’t be getting something right. But we’ve been rising all the time and we continue to rise at 6 Music.”

Neben der Rotations-Playlist werden auch alle anderen Songs in Zusammenarbeit mit den Moderator*innen, der Musikredaktion und den Producern rausgesucht. Am Ende laufen ca. 19.000 verschiedene Songs pro Jahr über den Sender. Das sind – kurz gesagt – sehr viele! Jede Show hat dabei einen eigenen Sound und niemand muss spielen, was ihm oder ihr nicht gefällt. 

“My music team, led by Lauren Brennan, we love our music and so do the presenters. They really believe in what they play and they love what they play and they’re not, like on some stations, forced to play these things they don’t like. And that expression of love for the music is so apparent and profound on 6 Music, that this really seeps through. And that’s really, really important, because I think with all radio stations authenticity is the key.”

Gleichzeitig versucht man in der Chefetage nicht auf Altersgruppen zu schauen. 6 Music richtet sich an Menschen, die Bock auf Musik haben. Die Bock haben Neues zu entdecken, interessiert an Backstories sind, ihren musikalischen Horizont erweitern, unterhalten werden wollen und darauf vertrauen, dass nach dem Song, den man gerade nicht so gut findet, ein Banger kommt. Mit dieser Einstellung will sich 6 Music gegen die Konkurrenz und (andere) digitale Player wie Spotify und TikTok durchsetzen und auch junge Menschen für das eigene Angebot gewinnen:

„We provide companionship, but not just companionship. Particularly with a station like 6 Music, we offer curation. There are about a hundred thousand different songs going up to Digital Service Providers [Anmerkung: Spotify, Apple Music, etc] everyday. No one can cope with that. You need somebody who can define or help you define your musical taste. And I think no matter what people say, oh yeah, younger people don’t listen to radio, I think it’s just that sometimes younger people haven’t had the opportunity to discover good radio. But when they do kind of relax into services like 6 Music, they are then exposed to not just the music, but the music presented by people who are experts and understand the music.”

„It’s also important in many ways to the music industry in this country“

6 Music lebt von der Freiheit, Programm zu gestalten, das sich nicht ausschließlich an Hörer*innenzahlen oder Marktanalysen messen muss. Ich finde das fantastisch. Und dennoch drängt sich die Frage auf, wie sich die BBC so etwas leisten kann. Gerade mit Blick auf die aktuellen Überlegungen der Tories, Programme wie zum Beispiel BBC Introducing zu kicken

“In terms of how much it costs per year to basically run 6 Music, it’s small compared to stations like Radio 2 or Radio 1. And it more than justifies its value for money. I would say 6 Music is probably the most public service of the public service stations we have, because it really drills down to the fact that there are 19,000 different songs played each year. That is four or five times more than any other station. Nobody else does it. That’s why we can justify getting some of the license fee to run our station. We know this provides a real service to a significant number of people in this country.”

Musikalische und programmatische Vielfalt als Legitimation für die Verwendung von Rundfunkbeiträgen – Mira Seidel, wenn du das lesen würdest!

„It’s also important in many ways to the music industry in this country, and particularly the independent labels. Those 30 songs on our playlist every week, 90% of them are from independent labels. And labels like Domino, Beggars Banquet, Rough Trade – you could talk to all of them, and they will all say: We just couldn’t function without 6 Music in the UK. And that obviously feeds to the UK music scene and development of artists from the UK music scene who often come from beyond the mainstream and are slightly left field and then move to the mainstream as well.”

Der Grund, warum wir hier in Deutschland seit Jahrzehnten so viele gute Acts aus Großbritannien hören und sehen können, ist also, dass es dort eine öffentlich-rechtliche Plattform gibt, die es diesen Künstler*innen ermöglicht, Aufmerksamkeit zu bekommen. Und das auch, wenn sie nicht Mainstream sind. Das war mal Radio 1 und ist jetzt 6 Music. Wie oft bekomme ich Bemusterungen, in denen PR-Leute oder die Bands selbst einen Play bei zum Beispiel Steve Lamacq auf 6 Music feiern, wie die Geburt ihres ersten Kindes. Das machen die nicht ohne Grund. Es bedeutet wirklich was. Ein Play bei Steve Lamacq hat den Stein ins Rollen gebracht, der die Idles von einer völlig unbekannten Band aus Bristol zur Stimme einer ganzen Generation gemacht hat. Das kann Musikradio, wenn man es, so wie die Menschen hinter 6 Music, gut und ernsthaft betreibt. 

Zum Schluss noch ein Tweet, der so gut zum Thema passt. Fast zehn Jahre nach der ersten Session bei Lauren Laverne auf 6 Music steht Lizzo auf der Bühne des ausverkauften The O2 in London und erinnert sich, wie das alles anfing…

Anmerkung: Das Gespräch mit Jeff Smith habe ich am 9. Februar 2023 via Zoom geführt.

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