FAZIT

7 Argumente für ein öffentlich-rechtliches Musikradio in Deutschland

“Ich hab mich echt über eure Initiative gefreut, endlich sagt‘s mal jemand!” – keinen Satz haben wir in den letzten Monaten so oft gehört wie diesen. Mit unserer Kritik an der musikalischen Bräsigkeit des öffentlich-rechtlichen Radios haben wir anscheinend offene Türen eingerannt und es ist schön zu sehen, dass ihr genauso unzufrieden seid wie wir. Dabei scheint die Lösung unfassbar einfach: In den vergangenen Wochen haben wir mit Radio- und Programmmacher*innen öffentlich-rechtlicher Musikradios aus sechs verschiedenen Ländern gesprochen und sie gefragt, wie sie das machen, was in Deutschland vehement verweigert wird. 

Haben wir Antworten gefunden? Ja! Waren diese Antworten überraschend? Nein! 

Das Projekt “Wo ist hier der Krach?” entstand aus dem Bauchgefühl, dass das Musikangebot im deutschen öffentlich-rechtlichen Radio immer gleichförmiger wird und Künstler*innen, die einem bestimmten Mainstream-Sound nicht entsprechen oder nicht die nötigen Social-Zahlen aufweisen, kaum noch abgebildet werden. Geplant hatten wir etwas ganz anderes, eine Studie zur empirischen Belegung dieses Gefühls. Doch die ausbleibende Hilfsbereitschaft von Radioakteur*innen, viel mehr aber noch die Resignation von den Leuten, die eigentlich am meisten am Ergebnis interessiert sein sollten, überrumpelte uns. “Was soll das bringen, haben wir schon versucht, ändert nichts”, waren Sätze, die wir zu Hauf gehört haben, und das von denjenigen, die die Interessen von Künstler*innen und Musikfans vertreten sollten. Um nicht selbst in ein schwarzes Loch abgestumpfter Hilflosigkeit zu rutschen, beschlossen wir, unseren Ansatz fürs Erste zu ändern:

Statt zu schauen, was hier falsch läuft, wollten wir erstmal gucken, was woanders besser läuft. Die Geburtsstunde von “Wo ist hier der Krach?”.

Die Gespräche, die wir mit den Senderchef*innen von öffentlich-rechtlichen Musikradios in sechs verschiedenen Ländern geführt haben, waren inspirierend, aufbauend und motivierend. Ihr findet sie alle in voller Länge hier auf der Homepage. Sie zeigen deutlich, dass Musikradio funktioniert, dass es sich lohnt und sogar demokratiefördernd sein kann. Das freut uns und bestärkt uns enorm in unserem Wunsch, musikalisch im ÖR abgebildet zu werden. Gleichzeitig sind unsere Fragezeichen, warum das nicht passiert, jetzt noch größer. 

Folgende Dinge sind die Key-Argumente, die wir aus den verschiedenen Gesprächen ziehen konnten:

  1. Ein Musikradio wäre im Vergleich relativ günstig, und das bei einem USP, den kein anderer ÖR-Radiosender in Deutschland abdeckt.

“In terms of how much it costs per year to basically run 6 Music, it’s small compared to stations like Radio 2 or Radio 1. And it more than justifies its value for money. I would say 6 Music is probably the most public service of the public service stations we have, because it really drills down to the fact that there are 19,000 different songs played each year. That is four or five times more than any other station. Nobody else does it. That’s why we can justify getting some of the license fee to run our station. We know this provides a real service to a significant number of people in this country. – BBC6

“Wie soll man das bezahlen?” – Eine gern gestellte Frage in Bezug auf nischige Inhalte im ÖRR. Darauf ein paar Gegenfragen von uns: Warum betreibt der ÖRR insgesamt 83 (!) Radiosender? Wer bezahlt die? Wer hört die? Was läuft da? 

Für einen neuen Sender, der sich 24/7 mit Musik beschäftigt, bräuchte es nicht viel Geld (im Vergleich zu anderen Produktionen des ÖRR). Das haben uns all unsere Interviewpartnerinnen bestätigt. Diese produzieren mit zum Teil sehr kleinen Budgets sehr großes Radio. Klar, der ÖRR muss sparen. Aber warum an der Kultur? Warum nicht an dem riesigen Verwaltungsapparat oder den vielen Radiosendern, die sich im Klang von Jahr zu Jahr ähnlicher werden. Ein Vorschlag: Wenn sich die Jugendwellen musikalisch und inhaltlich immer mehr einander angleichen, und das tun sie ohne Zweifel, könnte man ja auch nur eine Jugendwelle betreiben. Man produziert ein musikalisches Rahmenprogramm für alle und füllt es an den jeweiligen Standorten mit regional-individuellen Beiträgen und News auf. Nein? Warum nicht? Weil Vielfalt erhalten bleiben soll? So, so…

  1. Musikradios sind signifikante Multiplikatoren der lokalen Musikszene, besitzen sogar das Potenzial, diese überhaupt erst vollends möglich und lukrativ zu machen.

“FM4 ist die wichtigste Partnerin der österreichischen Musikschaffenden. Wir spielen 40% österreichische Musik. Das war nie so hoch. Das wurde erhöht, pandemisch bedingt, weil die Konzerte weg waren. Weil wir unsere Partner*innen – die Veranstalter*innen, die Musiker*innen – unterstützen wollten. Unser Commitment senden. Quasi konkretisierte Solidarität. Und wir haben postpandemisch diese 40% beibehalten.” – FM4

“We really wanted to give young Ukrainian artists an opportunity to show their work and to create new music for the people. This creates a higher value for the station. I want people in Ukraine to switch on Radio Promin and say: ‘Wow, I didn’t know we had these amazing artists in our country.’ This creates a higher value for the station. Also I want these artists to sell out all their concerts and to earn enough money to easily make their art.” – Radio Promin

Dass Musik ein Publikum findet, trägt maßgeblich zum Überleben von Musiker*innen und dem Aufbau von Newcomer*innen bei. Der seit Jahrzehnten anhaltende Strom von neuen Bands aus Großbritannien oder die starke Austro-Pop-Welle der vergangenen Dekade, lässt sich fundamental darauf zurückführen, dass lokale Bands im Radio ihrer Heimat eine Bühne bekommen. Würde der ÖRR mehr Musik von Bands und Künstler*innen unterhalb des Bekanntheitsgrades von LEAJasonDeruloNicoSantos platzieren, würden diese mehr Reichweite bekommen, mehr Platten, Tickets, Merch verkaufen und könnten sich langfristig überlebensfähig aufbauen und exportfähig werden. Hallo, Bruttoinlandsprodukt! Win-Win! Mal ganz davon abgesehen, dass der Support der heimischen Szene und Kultur abseits des oberen Mainstreams ein klarer öffentlich-rechtlicher Auftrag ist. Die meisten Künstler*innen in den aktuellen Heavy Rotations kommen aus dem Ausland – natürlich wollen wir auch da wissen, was es neues gibt, aber Lewis Capaldi und Pink sind nicht auf die Einsätze im ÖR-Radio angewiesen. Nicht nur, aber gerade in Post-Corona-Zeiten mit einem immer noch sehr angespannten Live-Markt und vielen prekär lebenden Musiker*innen, wäre das ein deutliches und positives Zeichen für den Musikstandort Deutschland.  

  1. Hörer*innen von Musikradios sind engagierter und identifizieren sich um ein vielfaches mehr mit ihrem Radiosender als Hörer*innen normaler Radiosender.

“We are a station for very curious people who are really interested in music. The second thing is of course our hosts and presenters. Because they are funny, passionate and they know loads about the music they play. They have a real connection with the listeners.” – P6

“Our listeners have always been from the active part of society. They are pro Ukraine, have higher education and they are interested in pop music from around the world and from Ukraine.” – Radio Promin 

In allen Ländern, die wir uns angeschaut haben, ist das Musikradio nicht der Quotensieger, das stimmt. Doch gleichzeitig fühlen sich diejenigen, die hören, stark mit ihrem Sender verbunden. Immer wieder gibt es Petitionen, wenn der übergeschaltete Senderverbund dem vermeintlich unwichtigen Musikradio aus profitorientiertem Optimierungswahn an den Kragen will. Habt ihr mal mit einem Musikfan gesprochen? Wir sind crazy! Warum nutzt der ÖR unser Stan-Potenzial nicht?

  1. Hörer*innen sind keine unmündigen Konsument*innen, die man nicht verschrecken darf – man kann und sollte ihnen etwas mehr zutrauen.

“The reason why music is being played on commercial media is not because it’s mainstream, it’s because it’s a great way to sell advertising. That’s why they’re playing that music. We don’t have to do that. The public is being served this kind of music through commercial media. There’s a public out there who are underserved and unserved by commercial media.” – Double J

“These people tune in for the surprise to hear every genre and every kind of music. I don’t think an algorithm will be able to offer that. There is no algorithm that could be more human than our human programmers. Algorithms propose you a playlist based on your taste. This keeps you in a bubble of your taste. Also each day there are 100.000 new tracks being uploaded to Spotify. No one has the time to filter all this music. We are trying to propose a kind of filter and we will surprise you with music you didn’t know you might like. This is our public service.”  – FIP

Es ist das vorherrschende Argument: der Song darf nicht anecken, sonst schalten die Leute um! Doch wer sich für Musik interessiert und sie von fachkundigen Redakteur*innen präsentiert bekommt, erträgt ohne Müh und Not auch mal ein Lied, das vielleicht nicht in den eigenen Geschmack passt. Tatsächlich erweitert so etwas doch den Horizont am meisten. Dass sich Radio über die Jahre darauf geeinigt hat, nur noch Musik zu spielen, die nicht stört, dient nicht mal dazu, den Menschen genau diese Musik nahezubringen, sondern soll das Publikum einfach nur bis zur Werbung am Ball halten. Das ist der wirtschaftliche Grund. Dies macht nun zweierlei Fragen auf: 1. Für wie fragil werde ich als Radiohörer*in gehalten und 2. die allergrößte, an anderer Stelle zu diskutierende: Warum richtet der ÖRR sein Radioprogramm überhaupt nach wirtschaftlichen Faktoren aus, wenn er doch zum größten Teil gebührenfinanziert ist und einigermaßen frei von Werbezwängen produzieren kann?

  1. Musikradios sind demokratiefördernd.

“Wir müssen die Antwort geben, die soziologisch erwiesen ist. Und zwar die der Milieus, die wir bedienen. Die Zukunftsmilieus. Die vorwärts gewandten. Die Milieus, die Bio gekauft haben, als es noch keine Bio-Linien beim Discounter gab. Die verlachten Bobos, die iPhones hatten, wo andere noch nicht wussten, wie ein Touchscreen funktionieren soll. Dass diese Schichten per Definition im Kleinen sind, ist logisch. Aber sie sind sehr wichtig, weil sie voller Multiplikator*innen sind. Daher muss es ein Angebot für diese Milieus, für diese Lifestyler geben. Ansonsten droht die Gesellschaft ja komplett auseinander zu driften. Wenn öffentlich-rechtliche Sender im Zuge von Corona zum Beispiel Teile der Gesellschaft und ihre Credibility drohen zu verlieren, wäre es umso fataler, auch die am Erhalt der Demokratien und am Erhalt des ORF interessierten Gruppen zu verlieren.” – FM4

“Wenn wir sagen, wir sind der Rundfunk der Gesellschaft und wir müssen Programm für alle anbieten, dann müssen wir Programm für alle anbieten. Nicht Programm für jene, die sich für den Mainstream interessieren, sondern halt alle, alle.” – FM4

Diesen Zitaten ist wenig hinzuzufügen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde geschaffen, um die Bevölkerung umfassend und unabhängig zu informieren. Und zwar die komplette Bevölkerung. Schließlich zahlt jede*r von uns einen Rundfunkbeitrag. Wir zahlen ihn gern, denn der ÖRR ist eine richtig gute Sache. Im Gegenzug möchten wir uns dafür aber auch im Programm wiederfinden. Nicht nur in Nachtstrecken und einmaligen Plays, die sich die Wellen gerade noch so als Feigenblätter erlauben. Es gibt zig ÖR-Sender, die sich auf Klassik spezialisiert haben – warum werden Klassikhörer*innen als wichtiger eingestuft als Hörer*innen alternativer Popmusik? (Die Antwort könnte sein: wegen ihres Alters. Doch damit sind wir schon beim nächsten Punkt.)

  1. Im Hinblick auf die steigende Marktmacht von Konkurrenzangeboten wie Spotify & Co muss Radio JETZT seine Stärken ausspielen, um nicht vollends an Relevanz zu verlieren.

“I think the streaming services are brilliant and do a particularly good job of being a library of all the music that’s ever been released. But that’s also a pretty daunting thing for a lot of people. Radio on the other hand is such a brilliant medium in its simplicity. If there’s a radio station that you trust, that has a community of listeners and presenters and has music that you enjoy listening to, it’s very easy to press just one button and let it make the decisions for you. There is something pleasurable about being part of something that is being enjoyed by someone else at the same time. It makes you feel like you’re part of something a little bit bigger.” – BBC6 Music

“It’s a huge challenge for all the people working with the youth in radio. The public youth stations – I really hope they crack it and get the right solutions because they can save the whole business.” – P6

“No matter what people say, oh yeah, younger people don’t listen to radio, I think it’s just that sometimes younger people haven’t had the opportunity to discover good radio. But when they do kind of relax into services like 6 Music, they are then exposed to not just the music, but the music presented by people who are experts and understand the music.” – BBC6 Music

Der Algorithmus ist immer nur so gut, wie der eigene Musikgeschmack. Heißt: in den allermeisten Fällen geben mir Spotify und Co. genau das, was ich hören will. Meinen musikalischen Horizont kann ich auf den Streamern nicht erweitern. An dieser Stelle könnte öffentlich-rechtliches Radio ansetzen. Viele unserer Gesprächspartner*innen wollen mit ihrem Programm die Hörer*innen herausfordern, ihnen Zugänge zu Musik ermöglichen, von der sie nicht wussten, dass sie existiert. Das ist doch genial und schreit ja geradezu: BILDUNGSAUFTRAG! Dazu kommt noch, dass ein Haupt-Einschaltgrund das klassische Radio-Community-Gefühl ist: Wir alle hören live an verschiedenen Orten dasselbe. Das kann in einer Playlist nicht aufkommen. Genauso ist es mit den Moderator*innen: Personalities am Mikrofon sind wichtig, das hat auch Spotify verstanden. Dort geht man jetzt full circle zurück zum Radio, nur in schlecht: „Spotify AI DJ“ ist eine künstliche Intelligenz, die individuell für den oder die jeweilige*n Nutzer*in Songs an- und abmoderiert

Außerdem wird das Radiopublikum immer älter, wenn Radio weiter an Attraktivität verliert. Mit der Überalterung mitzulaufen statt neue Wege zu gehen, wird diesen Trend eher beschleunigen als ihm etwas entgegenzusetzen.

  1. Radiosender mit kreativer Handlungsfreiheit steigern die Qualität der Radiolandschaft allgemein.

“We don’t have a lot of money and there isn’t a lot of focus on what we do, even inside DR. That can be really frustrating when we do great content and not a lot of people hear it. But it’s also a luxury as well. We can try all sorts of program features. When we do the programs, we don’t think too much all the time. We just do it. We can play the music we like and we can put young presenters in front of the mic, earlier than other stations do.” – P6

Ein oft genanntes Argument von Musikredaktionen, warum sie Songs von Bands nicht spielen: zu unbekannt. Sie sagen, dass ein Song erstmal woanders “warmgespielt” werden muss, bevor sie ihn für Airplay in Erwägung ziehen. Das wird dann zum Problem, wenn wir, so wie jetzt, kaum noch Sender haben, die unbekannte Artists warmspielen. Ein öffentlich-rechtlicher Musiksender kann das übernehmen und so die Musikqualität der gesamten Radiolandschaft heben. Ist ein Song erstmal warmgespielt, kann er auch auf anderen Stationen laufen. Auch durch frische Moderator*innen, Aktionen und Formate können Musikradios die komplette Szene beeinflussen. Die von uns untersuchten Musikradios im Ausland lassen Personen an die Mikrofone, die woanders lange nicht moderieren dürften. Dadurch können neue Personalities wachsen, sowie unterschiedliche Blickwinkel und Ansprechhaltungen kultiviert werden, die später auch bei größeren öffentlich-rechtlichen Radiosendern zum Einsatz kommen und sie relevant und interessant halten können.

Was nun? 

Nach den Gesprächen mit den Programm- und Senderchef*innen aus den sechs Ländern sind wir uns sicher, dass der aktuelle Weg der Pop- und Jugendwellen, immer weniger Nische im Programm zu platzieren, falsch und absolut nicht zukunftsfähig ist. Der deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunk kommt dem Rundfunkstaatsvertrag nur dann nach, wenn er auf mehr Subkultur, mehr Nische, mehr unangepasste und individuelle Inhalte setzt. 

Letztlich geht es um den Umgang mit Musik als Kulturgut. Wollen wir auf öffentlich-rechtlicher Ebene wirklich auf Vielfalt und all die geilen Bands und Künstler*innen in unserem Land verzichten? Markforstern wir uns weiter so durchs Programm, auch wenn sich ein nicht unwesentlicher Teil der Beitragszahler*innen nicht abgebildet fühlt?

Die Suche nach dem Krach endet hier nicht. Wir suchen weiter. Und im besten Fall zusammen mit euch! Egal ob ihr selbst irgendwie mit dem Musikbusiness verbandelt oder „nur“ Fans seid. Wir brauchen euch, denn nur zusammen können wir so viel Druck aufbauen, dass sich tatsächlich etwas ändert. Meldet euch bei uns entweder per Mail: hallo@woisthierderkrach.de

Wir haben HIER Feedback von euch zusammengetragen und HIER unsere Ideen aufgeschrieben, was jetzt passieren könnte.

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